Eurythmie

 

Die AVAH-Stiftung fördert Edith Peters sozial-künstlerischen Impuls, der modernen Menschen die Eurythmie als Instrument für die Poesie erschliessen möchte. 

Um einen Eindruck von Edith Peter und ihrer Arbeit zu bekommen, veröffentlichen wir hier einen Text, der aus einem Interview entstand, das Ulf Matthiesen mit ihr geführt hat ( publiziert März 2020 in der Zeitschrift "Auftakt" ).

Im Video-Interview mit Emilio Lucia vom 26. Januar 2020 erzählt Edith Peter von ihren Erfahrungen mit der Eurythmie und wie daraus ihre Methode entstand.

Interesse an solcher Arbeit?

Wer sich für eine solche Arbeit interessiert, ist herzlich eingeladen, vom 11. – 15. Oktober 2020 am Goetheanum in Dornach (Schweiz) an meinem Kurs teilzunehmen. Er findet über 5 Tage statt, jeweils drei Stunden morgens und drei Stunden nachmittags.

Es wird an einem differenzierten Kanon von Körper-Übungen (Boden- und Anwärmübungen), am eurythmischen Licht-Ansatz in Verbindung zum Raum und eventuell an Grundlagen zum Thema Rhythmus gearbeitet. (Anmeldungen bis zum 27.09.20 über srmknoSpam@goetheanum.ch)

 

Schon als kleines Mädchen war es meine größte Sehnsucht, zu tanzen. Ich hatte Freude an der Bewegung.

Geboren und aufgewachsen bin ich in Winterthur in der Schweiz. Mit achtzehn Jahren begann ich die Eurythmie-Ausbildung an der Zuccoli-Schule (1970-1974). Elena Zuccoli war vier Jahre unsere Lauteurythmie-Lehrerin und unsere Meisterin. Sie führte uns bis zum Studiums-Abschluss. Marga Tuschoff, mit Auftakt-Arbeit, und Elena Zuccoli unterrichteten uns aus der Begegnung mit Rudolf Steiner. Dazu hatten wir in den zwei letzten Ausbildungsjahren die Möglichkeit, mit Trude Thetter, auch eine Ur-Eurythmistin, jeweils vier Wochen Heileurythmie-Grundlagen zu erfahren.

Anschließend nahm ich an Angela Lochers Bühnenausbildung teil und habe dann sechs Jahre in der Zuccoli-Bühnengruppe mitgewirkt (1975-1980), sowohl in Eurythmie-Aufführungen als auch im Faust- und in den Mysteriendramen. Ich lernte manche der Ur-Eurythmistinnen noch im gemeinsamen Tun kennen –  in ihrer Regietätigkeit und der solistischen Arbeit mit mir (Maria Schuster-Jenny, Ida Schweigler, Elena Zuccoli und Mascha Pozzo), sowie in der Wahrnehmung ihres bühnen-künstlerischen Tuns.  Ich besuchte Fortbildungskurse bei Ilona Schubert, Lea van der Pals und Else Klink. Bei Lilli Reinitzer habe ich Annemarie Dubachs Ansatz zur plastischen Formführung in der Eurythmie erlernt.

Mit vierundzwanzig Jahren begann ich in der Zuccoli-Schule die Laut-eurythmie im ersten Ausbildungsjahr zu unterrichten.   

Ich lebte insgesamt dreiundzwanzig Jahre in Dornach. Neben der Bühnentätigkeit am Goetheanum unterrichtete ich pädagogische Eurythmie an der Christophorus-Schule in Basel, einer Förderschule. An einem Nachmittag in der Woche gab ich Eurythmiekurse an der Volkshochschule Offenburg und von 1982 bis 1992 freie Intensivkurse für Eurythmiestudenten und Eurythmisten im eigenen Studio.  

Bei Hedwig Greiner-Vogel habe ich intensiv Metrik und Poetik studiert – vier Jahre im Rahmen der Ausbildung, dann weitere neunzehn Jahre in enger Zusammenarbeit. Bei der Verschriftlichung ihres Standardwerkes zur Eurythmie („Die Wiedergeburt der Poetik aus dem Geiste der Eurythmie“) habe ich ihr über längere Zeit assistiert. Ich fühle mich ihrem Arbeitsansatz und ihren Forschungsergebnissen tief verbunden, auch wenn ich daraus meine ganz eigene Arbeit entwickelt habe.

Dreißig Jahre (1985-2015) habe ich grundlegende Metrik-Poetik-Kurse geleitet, die auch eine künstlerische Ausarbeitung eines Gedichtes zum jeweiligen Thema beinhalteten.

1985 wurde ich von der Leitung der Sprachgestaltungs- und Schauspielschule am Goetheanum gebeten, der ganzen Schule Kurse in Metrik-Poetik zu geben. Von Anfang an kam Guido Beirens auf mich zu und stellte mir viele zentrale Fragen. Daraus entstand ein reger Austausch über Sprache und Eurythmie, deren Entwicklung und Grundgesetze, und über die Poesie. Es war für uns beide, als sprächen wir dieselbe Sprache. Dieses bewahrheitet sich bis heute und mündete in eine tiefe Freundschaft und Arbeitsgemeinschaft. Ab 1991 konzipierten, organisierten und gestalteten wir gemeinsam jährliche Seminare zur Modernen Lyrik, wo jeweils ein Dichter oder eine Dichterin im Mittelpunkt stand (z.B. Georg Trakl, Paul Celan, Nelly Sachs, Ingeborg Bachmann, Peter Huchel, Reiner Kunze). Diese Arbeit dauert bis heute an. So verdanke ich entscheidende Anregungen und Impulse dem jahrzehntelangen Zusammenwirken mit meinem Arbeitspartner, Freund und inzwischen Ehemann.

Zwischen 1989 und 1993 leitete ich eine Bühnengruppe mit acht jungen Eurythmistinnen und Eurythmisten, die am Goetheanum aufführte (u.a. den Tanz der 14 griechischen Rhythmen, die Stillung des Meeres in Althochdeutsch aus dem Heliand, den Streit zwischen Krimhild und Brunhild aus dem 24. Gesang der Siegfried-Sage, Minnesänger-Texte und Toneurythmie).

1993 zog ich nach Berlin, habe dort an der Dahlemer Waldorfschule pädagogische Eurythmie unterrichtet und Oberstufenprojekte geleitet. 1996 machte ich die Ausbildung zur Heileurythmistin in Stuttgart. In dieser Funktion habe ich an der Berliner Schule zwanzig Jahre gearbeitet.

In Den Haag war ich neun Jahre in leitender Funktion im pädagogischen Ausbildungsgang BA und in praktischer eurythmischer Basisarbeit tätig (2005-2014).

Heute bin ich freischaffend.

Die Ur-Eurythmistinnen – wir nannten sie auch „die Alten“ – waren immer überraschend. Elena Zuccoli konnte in einer Aufführung z. B. als Hauptfigur plötzlich von einer anderen Seite auftreten als bei den Proben. Sie hatte immer in allem etwas Freies und Unmittelbares. Es gab keine Wiederholungen, sie war immer neu. Die Kraft, aus der Intuition zu arbeiten, ist aus meiner Sicht dann mehr und mehr verloren gegangen. In meinen Bühnenjahren fiel mir auf, wie es immer wichtiger wurde, die gleichen Gebärden und Laute zu machen, so dass es schön zusammenklang. In meiner Wahrnehmung nahm mit dem allmählich reduzierten Mitwirken der Ur-Eurythmistinnen die Qualität des individuellen Kraftens ab. Durch diese Eindrücke entstand bei mir folgende Frage: Gibt es eine Methode, die dem Individuellen des Einzelnen Raum gibt und dieses so zur Erscheinung kommen lässt, dass es im Chor als „Eines“ wirkt? So erlebte ich die Ur-Eurythmistinnen: Jede war eigen, und doch war es ein Ganzes im Zusammenklang.  Natürlich haben die „Alten“ viel geübt, aber im Moment der Aufführung war es neu. Also: Wie und wodurch „fällt“ das Intuitive in meine Gesten, in mein eurythmisches Tun „herein“?

Die Eurythmiemeditation ist für mich der Leitstern: Wie komme ich über die Füße in ein Gefühl von Schweremacht? Wie komme ich über die Hände in ein Gefühl von Formgewalt? Wie komme ich über den Kopf zu einem Gefühl von Himmelskraft?  Und wie öffne ich mein Instrument, um solche Erfahrungen machen zu können?  

Während meiner Ausbildung hatte ich immer wieder irgendwelche physische Blockaden und unerklärliche Schmerzen. Dasselbe habe ich an meinen Studenten in der Eurythmie-Ausbildung wahrgenommen (Rücken- und Gelenkprobleme, Nicht-im-Körper-Sein, usw.). Dadurch wurde bei mir die Suche nach geeigneten Körperübungen angestoßen: Gibt es einen Weg des Anwärmens für die Eurythmie, der dieser entspricht, der eine Vorbereitung ist für das, was ich eurythmisch tue?  Wie bekomme ich einen muskulär flüssigen, durchgearbeiteten Körper, ein Bewusstsein für meinen Leib?

Mir wurde immer klarer: In der Eurythmie-Meditation ist schon alles enthalten. Ab da war sie mein Werkspruch und meine Arbeitsgrundlage: Wie sprechen meine Füße, wie singt meine Mitte und wie sinnt mein Kopf?  Daraus entwickelte sich mein „eurythmischer Ansatz“: Das Becken gibt mir die Möglichkeit zur Erdung und das Sonnengeflecht (mit dem Brustbein und den Schlüsselbeinen) die Möglichkeit zur Atmung. Wer diese Bewusstseins-Atmung – die man auch Lichtatmung nennen kann – übt und beherrscht, lernt, wie er in den Raum hinausatmet und ihn erfährt. Das nannten „die Alten“: vorgreifen.

Wie sind die Übungen, die ich entwickelt habe, entstanden?

In Berlin kamen z.B. nachmittags Oberstufenschüler todmüde zu mir. Ich hatte vor, mit ihnen über jeweils drei Stunden Projektarbeit zu machen. Da habe ich sie erst mal nur am Boden liegen lassen können. Ich fragte mich: Wie bringe ich sie liegend wieder in Bewegung, und wie bringe ich sie aus ihrem Kopf wieder in den Körper?

Wie kommt man vom liegenden Menschen mit Spannen und Lösen, mit Dehnen und Zusammenziehen allmählich durch verschiedenste Körperhaltungen und -übungen wieder zum Stehen?  So entwickelten sich die Bodenübungen, die den Muskelmenschen stärken und kräftigen.

Durch die dann folgenden Anwärm-Übungen ist es jedem möglich, ein Wohlgefühl im Körper zu bekommen, ein Durchatmet-Sein, ein Durchwärmt-Sein. Alle Muskeln des Körpers werden der Reihe nach durchbewegt. Ganz wichtig ist mir dabei geworden, dass dieses „physische“ Arbeiten im Fluss geschieht und begleitet wird von rhythmischem Atmen. Der Atem steht dem Leib, den Gelenken, den Muskeln zur Verfügung. Wie atme ich also bewusst und sinnvoll so, dass die Übungen wirksam werden können? Das tue ich dann in der Eurythmie selbstverständlich nicht mehr, dort überlasse ich den Atem sich selbst.

Wenn der Körper in einer weichen, flüssigen und präsenten Form da ist und sich bis in die Gesichtszüge entfaltet und diese entspannt, beginnt erst das eigentliche Arbeiten am eurythmischen Instrument.

Nach meiner Erfahrung gründet die eurythmische Bewegung in einem ruhig gehaltenen, aber bewussten Beckenraum (Die „Alten“ sagten uns dazu: „Wackelt nicht mit den Becken rum!“. Und O-Ton Ilona Schubert: „Der Ansatz der Eurythmie ist im Bäuchlein“). So kann eine Verbindung entstehen sowohl zu den Füßen, zum Boden, als auch nach oben, über das atmende Sonnengeflecht zum Herzraum. Im Herzraum, dem Ort der Ur-Übung des Ballens und Spreizens, beginnt die beseelte Bewegung.

Die Bewusstseins- oder Licht-Atmung ist für mich der zentrale Schlüssel zur „ätherischen“ Bewegung geworden. Jeder Mensch kann so in seine Beweglichkeit kommen, dass, wenn er seine Arme öffnet, er die Erfahrung macht: Ich bin schon dort, bevor ich meine Arme dorthin bewege (das „Vorgreifen“ der „Alten“).

Dadurch bekomme ich die Wahrnehmung, dass mir etwas entgegenkommt, der Umkreis oder der Raum. Erst dann kommen alle weiteren Eurythmie-Elemente, wie Farben, Rhythmen, Seelengesten, Laute, Planeten und Tierkreis. Diese Grundelemente oder Kunstmittel entwickle ich immer über die Arbeit mit dem Lichtatem.

Ein Gedicht ist für mich wie ein Mensch, bestehend aus Leib, Leben, Seele und Geist. Am Anfang einer künstlerischen Ausarbeitung wird zuerst in schriftlicher Form analysiert: Was ist der Bau oder der Leib des Gedichtes (Strophen), was ist das Leben (Rhythmus), wie fühlt sich das Seelische an und was ist die Sinn-Aussage? Dann wird gelauscht: Was sagt mir der Strophenbau des Gedichtes, und wie kann dann eine Eurythmie-Form aussehen, die dem entspricht? Wie sieht das Leben aus, wie tanzen die Rhythmen miteinander? Welche seelischen Gesten kommen mir aus dem Gedicht entgegen? Und mit welchen eurythmischen Mitteln kann ich mir den Sinngehalt des Gedichtes erschließen?

Es gibt in der klassischen deutschen Dichtung die unterschiedlichsten Dichtungsformen: vierzeilige Reimstrophe, Terzine, Sonett, Stanze, usw.   Hinter dieser Dichtungsepoche stehen die griechische Welt der Rhythmen und die nordische Welt der Alliterationen und Assonanzen: Aus welcher dieser Welten ist das konkrete Gedicht inspiriert? Ebenso gibt es lyrische, epische und dramatische Poesie. Woran erkenne ich sie, und wie gestalte ich sie?

 

Die Dichtung des 20. Jahrhunderts ist durch die Weltkriege zerbrochen. Jedes Gedicht ist seitdem eine Einzelgestalt ohne vorgegebene Form. Das war vorher nicht so, die Romantiker z.B. haben oft in vierzeiligen Reimstrophen und mit fließenden Rhythmen gedichtet. Gleich aufgebaute Strophenformen und gleichmäßig fließende Rhythmen gibt es nun nicht mehr. Aus meiner Erfahrung mit moderner Dichtung stellte sich immer deutlicher heraus, dass es trotzdem Sinn macht, im konkreten Fall das Gedicht daraufhin zu befragen, ob es mehr im nordisch impulsierten Sprachstrom (Hebungs-/Senkungsprinzip) oder im fließenden Sprachrhythmus lebt. Oder ist es von beiden durchmischt?

 

Wenn ich den Bau des Gedichtes analysiert habe, habe ich eine Konfiguration für eine Eurythmieform, die als Grundlage für den Bewegungsstrom der Füße dient („…der Füße Wort“). Dabei können sich aus der Art des Strophenbaus geometrische Grundformen ergeben, wie z.B. bei drei Zeilen ein Dreieck, bei vier Zeilen ein Viereck, auf deren Grundlage es möglich ist, eine künstlerische Form zu entwickeln.

Beim Rhythmus geht es bereits um mein eurythmisches Instrument: Wie bin ich durchpulst und durchatmet vom Wesen der freien Rhythmen im Gedicht?

Die Arbeit an der nächsten Schicht wird von der Frage geleitet: Wie fühlt sich dieses Gedicht an, welche Seelenstimmungen, welche Hintergründe wollen beleuchtet werden?

Zuletzt bleibt noch die Aussage, der Inhalt des Gedichtes zu erschließen. Die klassischen und romantischen Gedichte sprechen meistens die Bilder so aus, wie sie gemeint sind. Wenn dagegen ein moderner Dichter das Wort „Frühling“ in den Mund nimmt, heißt das noch lange nicht, dass er jetzt den konkreten Frühling meint, sondern er meint  meistens etwas Erweitertes, etwas Unsagbares, eine Metapher, eine Überhöhung, worin eine zusätzliche, erweiternde Aussage liegt. Wie komme ich also an die Sinnfrage, an das Ich des Gedichtes, seine Individualität heran? Für mich war zur Beantwortung dieser Frage dann ein wesentlicher Schlüssel, nicht nur die Seelengesten, sondern auch das „Sternenwesen“ zur Verfügung zu haben. Wenn ich also einen Zugang dazu bekomme, was die Sterne sagen – eine Tierkreis- oder Planetenbewegung – habe ich damit ein Mittel, mit dem ich den Sinn eines  modernen Gedichtes ausdrücken kann. Wenn die Sterne mitsprechen – und ich erlebe das bei allen Dichtern des 20. Jahrhunderts, in ihren guten Gedichten –, ergibt sich Sinn, der aus dem Umkreis dazu kommt.

Diese “Schichten“ der verschiedenen eurythmischen Elemente in der Interpretation eines Gedichtes werden so lange geübt, bis sie sich dem Instrument einverleibt haben. Im Üb-Prozess folgt dann der nächste Schritt: die freie Improvisation, die Schöpfung wie „aus dem Nichts“. Hier zeigt sich, ob die vorherige Gestaltung der Eurythmie-Elemente dem spontanen, intuitiven Zugriff „zur Verfügung steht“. Wenn diese Neuschöpfung gelingt, erlebt das sowohl der  tätige Künstler als auch der Zuschauer.

Ich arbeite zur Zeit mit zwei Gruppen, die über viele Male wochenendweise anhand der oben beschriebenen Übschichten am selben Gedicht arbeiten, um dann schrittweise zu erleben, wie das Intuitive sich  einstellt. Man geht zwar durch Grenzerlebnisse des Nicht-Könnens, aber es wächst auch ein Vertrauen ins eigene intuitive „Kommen-Lassen“.

Damit ist aus meiner Sicht skizzenhaft das mir Wichtige gesagt. Um es zu erleben, braucht es die konkrete Erfahrung.

Interview Edith Peter

Teil 1 von 5

Wer ich bin und wie ich der Eurythmie begegnete

Teil 2 von 5

Welche Begegnungen ich hatte mit den Ur-Eurythmistinnen

Teil 3 von 5

Wie ich meinen Eurythmie-Unterricht aufbaue

Teil 4 von 5

Wie ich mit der eurythmischen Gestaltung von Gedichten umgehe

Teil 5 von 5

Meine Hauptgebiete in der Eurythmie